Vorwort
»Death march [...1 signifies the process by which a regime, usually a government or an occupying power, begins to summon members of a particular nation, group, or — on the basis of their ethnicity, religion, language, or culture — with a view to their elimination. The term death march signifies the physical action by which the gathered persons are then lined up and marched to certain mass death.« (Encyclopedia of Genocide and Crimes Against Humanity)
»Todesmarsch ...] bezeichnet den Prozess, durch den ein Regime, üblicherweise eine Regierung oder eine Besatzungsmacht, beginnt, Angehörige einer bestimmten Nationalität, Gruppe oder Subgruppe — auf Basis ihrer Ethnizität, Religion, Sprache oder Kultur — mit der Absicht ihrer Vernichtung zu versammeln. Der Begriff Tbdesmarsch bezeichnet die physische Aktion, durch die die versammelten Personen dann aufgestellt und in den sicheren, massenhaften Tod geschickt werden.«
Kein KZ-Häftling sollte lebend in die Hände des Feindes fallen. Nicht zuletzt deshalb wurden im Frühjahr 1945, kurz vor Kriegsende, etwa 758 000 völlig entkräftete Menschen auf Todesmärsche getrieben. Das Ziel war nicht Ankunft, sondern Vernichtung. Über das Schicksal der Häftlinge bestimmten die sie bewachenden SS-Mannschaften. Die Todesmärsche führten durch ganz Deutschland — durch Städte und Dörfer. 758 000 völlig entkräftete Menschen gingen unmittelbar an deutschen Wohnstuben vorbei. Hilfe war die Ausnahme — der Tod die Regel. Einer dieser Märsche, auf dem Häftlinge misshandelt, gequält und getötet wurden, begann in Leipzig und endete in Fojtovice. Mitte April 1945 wurden insgesamt über 15 000 Häftlinge aus Leipziger und anderen aufgelösten Außenlagern des Konzentrationslagers Buchenwald in Gruppen in unterschiedliche Richtungen auf Todesmärsche getrieben. Nur wenige von ihnen sollten den Marsch überleben. So oder vergleichbar ist es in der einschlägigen Geschichtsliteratur zu lesen. Nicht mehr und nicht weniger. Ich aber wollte mehr über die Menschen, die während dieses Marsches gequält und getötet wurden, und über jene, die gequält und getötet haben, erfahren, wollte
wissen, durch welche Orte die Menschen getrieben wurden und wer oder was ihnen dort begegnet ist. Über die Gedenkstätte Buchenwald und die Gedenkstätte für Zwangsarbeiter in Leipzig und dann noch auf weiteren Umwegen bekam ich Anfang 2016 von Christine Schmidt (Breitenbrunn im Erzgebirge) Informationen über eine Gruppe von Häftlingen: Es war eine 2400 Häftlinge umfassende Gruppe, die am 13. April 1945, von der SS bewacht, das Lager in Leipzig-Thekla, Wodanstraße 40, verließ. Nur etwa 250 von ihnen überlebten den Marsch. Die Überlebenden wurden am 9. Mai 1945 von Soldaten der Roten Armee in Fojtovice (Tschechien) befreit. Ich bekam Aufzeichnungen von Überlebenden dieses Todesmarsches und detaillierte Informationen, mit denen ich die Route des Todesmarsches genau rekonstruieren konnte. Und ich bekam Unterlagen, in denen die Geschehnisse während des Marsches (z.B. in Polizeiprotokollen) dokumentiert waren. Dank dieser Informationen war es mir möglich, den »historischen« Weg von Leipzig nach Fojtovice zu gehen und mich als Fotograf dieser Geschichte künstlerisch anzunähern. Die Aufzeichnungen des Überlebenden Andre Raimbault und seiner Freunde Jacques Duzan, Jean Schiano di Cola, Pierre Drapron und Charles Sasserand machten den Marsch und das Leid der Menschen für mich zwar »anschaulicher« (es ging nicht mehr nur um abstrakte Zahlen oder verallgemeinernde Feststellungen), ließen mich das Geschehene aber noch weniger begreifen. Was sie niedergeschrieben haben, ließ mehr Fragen als zuvor unbeantwortet. Am 12. April 2017 war ich in Leipzig und ab dem 13. April bin ich den »historischen « Weg von Leipzig nach Fojtovice gegangen. Nicht, um ihn nachzustellen oder den Versuch zu unternehmen, eine Dokumentation des Todesmarsches zu erstellen oder die Ereignisse mit all ihren Facetten zu beleuchten; und schon gar nicht, um das Leid oder die Verzweiflung der Menschen, die als KZ-Häftlinge auf diesen Marsch getrieben wurden, nachempfinden zu wollen. Ich ging diesen Weg, um mich als Fotograf dieser Geschichte künstlerisch anzunähern und um hier — an/in den Orten und Räumen, in denen sich diese Geschichte manifestierte — jene Aura zu erleben, die von dieser Geschichte erzählt. Und ich habe aufmerksam auf das »geschaut« und dem »zugehört«, was mir auf diesem Weg von dieser Geschichte »gezeigt und erzählt wurde«, und versucht, es intuitiv zu erfassen und zu imaginieren. Die sich so entwickelten inneren Bilder habe ich dann jeweils nur noch auf die Funktionen meines Fotoapparates übertragen. Die fotografischen Bilder zeigen mein Erleben während meines Marsches und meine persönliche Sicht auf diese Geschichte.
Umschlag: Hermsdorf, 2. Mai 2017
Buchgestaltung: Herbert Naumann, Olfen
Satz: Mareike Bardenhagen, Lehmstedt Verlag
Druck: Westermann Druck, Zwickau
Lehmstedt Verlag, Leipzig, 2020 (für diese Ausgabe)
© Suhrkamp Verlag, Berlin 2020 (für S. 256)
Alle Rechte vorbehalten.
Printed in Germany.
ISBN 978-3-95797-110-4
Verlagsinformationen: www.lehmstedt.de